Als junges Mädchen war ich begeisterte Leistungssportlerin in einem Wiener Turnverein. Meine Nachmittage verbrachte ich drei bis vier Mal pro Woche beim Training, darüber hinaus übte ich eifrig in meinem Kinderzimmer. Wenn ich sonntags mit den Eltern spazieren ging, marschierte ich nicht wie ein normaler Mensch auf zwei Beinen, sondern bewegte mich mittels Räderschlagen vorwärts. Ich war mit totaler Leidenschaft dabei und glücklich über jeden Wettbewerb, für den ich mich qualifizieren konnte.

Als es wieder einmal so weit war, sollte ich über einen Sprungkasten einen „Bogen vorwärts“ schlagen. Ein Sprungkasten sieht aus wie eine Holzpyramide, kann verschieden hoch eingestellt werden und ist auf der obersten Stufe mit einer Lederpolsterung abgeflacht. Für Wettkämpfe wird der Kasten meist auf ihre Maximalhöhe gebracht, sodass die Turnerin, der Turner ein Sprungbrett braucht, um ihn zu überwinden – dabei stützt man sich für Sekunden mit den Händen auf der Lederfläche ab. Meine Aufgabe bestand darin, so viel Schwung zu holen, dass ich auf der Höhe in einen Handstand komme und mich aus dieser Position heraus über den Kasten drehe, also einen „Bogen vorwärts“ schlage.

Doch ich hatte so viel Tempo drauf, dass meine Hände nur mehr die äußerste Kante des Holzturms berührten. Ich drehte mich nicht mehr über sondern bereits hinter dem Kasten durch die Luft und knallte mit voller Wucht rücklings auf den Boden. Minutenlang lag ich wie ein hilfloser Käfer da, schnappte nach Luft. Mir war schwarz vor den Augen. Aber kaum stand ich wieder auf den Füßen, führte mich der Trainer zur nächsten Übung. Seine radikale Vorgehensweise empfand ich nicht als Härte, im Gegenteil, ich war froh, den Wettbewerb abschließen zu können.

Krönchenrichten und alles Glück für 2021! © Christiane Skene

Niederfallen, aufstehen, Krönchen richten, würde man heute dazu sagen. Oder, wenn man beruflich und daher formeller unterwegs ist – das Trainieren von Resilienz. Das Wort stammt vom lateinischen „resilire“, was so viel wie zurückspringen oder abprallen bedeutet. Lange war es in den Fächern Physik und Technik geparkt, etwa für die Beschreibung von elastischen Materialien, die in ihre Ursprungsform zurückfinden oder Systemen, die selbst nach Teilausfällen weiter funktionierten. Mittlerweile hält der Begriff für alle möglichen Lebenslagen her, in denen es darauf ankommt, nach einer Niederlage möglichst rasch wieder zur alten Form zurückzufinden.

Resilienz spiegelt eine der Kernkompetenzen des Menschen. Sie bedeutet, dass man sich nicht durch Trauer, Verlust oder selbst allergrößte Katastrophen wie Krieg dauerhaft entmutigen lässt. Sondern aus dem Schmerz, der Krise, dem Trauma herausfindet, sich weiterentwickelt. Einfach weitermacht. Manche beherrschen diese Begabung besser, andere schlechter, aber irgendwie schaffen es fast alle Menschen auf erstaunliche Weise immer wieder, auf die Beine zu kommen. Der Roboter kann das übrigens nicht – bei dem heißt kaputt, auch wirklich kaputt.

In Zeiten des Wandels wird diese Eigenschaft besonders stark auf die Probe gestellt. Werfen wir einen gnadenlosen Blick auf das große Ganze rund um uns herum, sehen wir lauter Unsicherheiten. Das Klima, das möglicherweise kurz vor dem Kollaps steht. Die USA, mächtigste Nation der Welt, in den Händen eines Unberechenbaren. Dazu der Brexit, der das europäische Selbstbewusstsein durcheinanderrüttelt. Das unheimliche China, das an unseren Kernkompetenzen, wie industrielle Präzision oder Luxus und Kunst nagt. Und zuletzt das Corona-Virus, das die Verletzlichkeit unserer Welt offenbarte und diese auf Monate lahmlegte.

Über all dem schwebt dann auch noch die Digitalisierung. Überall auf der Welt zwingt sie Menschen ihre Wirtschaftsformen, Währungssysteme, Bildungswege, ihr Arbeitsleben, ihren Alltag zu überdenken und neu zu gestalten. „Raus aus der Komfortzone!“, hallt es uns aus allen Ecken entgegen. Trotzdem müssen wir gut drauf sein – engagiert, innovativ, lernbegeistert und offen für alles Neue.

Damit es nicht gar so stressig wird, hat uns eine wohlmeinende, unsichtbare Macht Mark Zuckerberg geschickt, der uns mittels Facebook und Instagram rasche Auszeiten in die sonnigen Zonen Digitaliens ermöglicht, glücklicherweise haben wir diese kleinen Fluchten. Aber spätestens, wenn um sieben Uhr oder früher der Wecker läutet, heißt es wieder: „Try again. Fail again. Fail better”.

So schaut es nämlich rund um uns herum aus, wenn wir einen unerbittlichen Blick auf unsere Existenz werfen. Es hilft kein Wegschauen – der berühmte Spruch rund ums Probieren, Scheitern und Aufstehen ist zum Mantra unserer Zeit geworden. Dabei ist er gar nicht mal so frisch, wie er klingt. Er stammt vom irischen Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Samuel Beckett, der ihn in den frühen Achtziger Jahren verfasst hat. In seiner Prosaarbeit „Worstward Ho/Aufs Schlimmste zu“ (1983) stellt er das Scheitern als nicht abzuschließenden Prozess dar, als Bedingung für ewiges Weitermachen. Im vollen Wortlaut schrieb er: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“ – auf Deutsch: „Immer versucht. Immer gescheitert. Macht nichts. Versuche es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser“. Es ist davon auszugehen, dass Beckett diesen Satz nicht so positiv meinte, wie wir ihn heute sehen. Dafür sorgt schon unser Zeitgeist. Denn wer nicht von Haus aus resilient genug ist, um die Veränderungen, die das Digitale mit sich bringt, innerlich mitzutragen, dem kann geholfen werden.

Das Stehaufmännchen-Prinzip ist zum Unterrichtsfach geworden. Etliche Psychologen, Lebenshelfer oder Coaches versorgen einen mit Nachhilfe-Tipps, wie man zum seelischen Obelix wird. 2014 wurde in Mainz das Leibnitz-Institut für Resilienzforschung gegründet, ein außeruniversitäres Forschungsinstitut, das erste seiner Art in Europa. Es beschäftigt sich mit „der Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung psychischer Gesundheit während oder nach stressvollen Lebensereignissen“, wie auf der Homepage nachzulesen ist. Dabei sind eine Teflonhaut und Teflonorgane nicht jedem gegeben.

Wir Baby-Boomer erlebten Stress und Frust ja vielleicht noch als gewöhnliche Begleiter unserer Kindheit. Die meisten haben noch diese Sätze in den Ohren: „Strafe muss sein“ oder „Glaube mir, das tut mir mehr weh als dir“ oder „Eine Ohrfeige hat noch niemanden geschadet“. Heute würden diese Erziehungsfloskeln unter seelischer Grausamkeit firmieren.

Wenn es denn etwas Positives an dem rüden Ton zu finden gab, war es, dass wir Boomer unsere Außenwelt oft als viel freundlicher, wohlwollender und chancenreicher wahrnahmen als unser Elternhaus. Selbstverständlich hatten wir das Gefühl, dass da draußen jemand auf uns wartete – und wenn es nicht auf Anhieb so klappte, wie wir es uns wünschten, dann blieben wir eben weiter dran oder versuchten es anderswo. Selbst für jene, die gegen das da draußen rebellierten, bedeutete der politische Aufstand Selbstverwirklichung und damit eine eigene Form des Glücks.

Aber die Verhältnisse haben sich gewandelt. Für Kinder der westlichen Wohlstandsgesellschaften brennt heute das Kaminfeuer, das ihre Seelen wärmt, daheim – und draußen lauert der „Feind“, der mit wechselnden Tricks ihre Frustrationstoleranz permanent auf die Probe stellt. Kooperativen, verständnisvollen Eltern stehen überlaufene Universitäten gegenüber, schwer zu bekommende Ausbildungsplätze, strikte Auswahlverfahren, Bewerbungsschreiben, die im Nichts landen oder mit freundlichen, nichtssagenden Schimmelbriefen retourniert werden. Es gibt keine Jobsicherheit, keine Beziehungssicherheit, keine Wertesicherheit. Denn das Selbst hat sich, genauso wie das Zwischenmenschliche den Gesetzen des Marktes unterzuordnen. Alles und jeder ist dem ständigen Druck der Optimierung ausgesetzt. In so einem Dauerstress lässt sich das Aufstehen und Krönchenrichten nicht so leicht üben.

Während wir Boomer bereits als Kinder unsere Resilienz auf überschaubar abgestecktem Terrain trainieren konnten, müssen sich die Generationen Y und Z an einer Welt abarbeiten, von der sie nicht glauben, dass sie ihnen Gutes will. Die Erde, in die sie sich gepflanzt sehen, hat seit den Millenniumsjahren das Wort „Krise“ fix in ihr Rotationsprinzip eingebaut. Eine weitere Erklärung für die gestiegenen Belastungen beschreiben die beiden deutschen Arbeitsforscher Daniela Ahrens und Georg Spöttl in ihrer Publikation „Industrie 4.0 und Herausforderungen für die Qualifizierung von Fachkräften“: Das Automatisierungsdilemma trägt die Schuld. Die Zwickmühle steckt nämlich im Widerspruch, dass sich bei zunehmender Digitalisierung die Aufgaben der Beschäftigten in Richtung Steuerung und Überwachung entwickeln, während die konkreten Arbeitsschritte immer weniger nachvollziehbar werden. Der Mensch muss also immer häufiger bei Störungsfällen eingreifen, über die er eigentlich nicht im Bilde ist – was ihn auch um die Gelegenheit bringt, Erfahrungen zu sammeln. Schon 1983 hatte die amerikanische Kognitionspsychologin Lisanne Bainbridge diese unerquickliche Lage unter dem Begriff „Ironies of Automation“ zusammengefasst. Kennt sich der Mensch aber nicht mehr aus, verringert sich seine Belastbarkeit.

Genau davor warnt der Psychiater Klaus Lieb, einer der Mitbegründer des Deutschen Resilienz Zentrum: „Es kann nicht darum gehen, Menschen immer belastbarer zu machen, damit sie jeden Engpass ausgleichen“. Weil aber die Vorstellung, dass Robustheit erlernbar sei, allzu verführerisch ist, verleitet sie inzwischen nicht selten zu Missbrauch. Das Modewort „Resilienz“ deckt viel zu oft die Frage zu, wie man die Verrücktheiten unserer Zeit am laufenden Band wegstecken kann, um sich dann im Wettbewerb des Lebens noch besser, noch schneller und noch höher zu behaupten. Das ist die Gefahr bei zu laut gepriesener „Resilienz“.

Hüten und pflegen Sie ihn daher, Ihren inneren Obelix. Oder, in Abwandlung eines legendären Star Wars-Zitats: Möge die Kraft im Jahr 2021 mit Ihnen sein. Und das Glück sowieso!


Dieser Text ist ein Auszug aus „Error 404. Wie man im digitalen Dschungel überlebt“ von Michaela Ernst (2020, Ecowin).

Die im Text zitierte Studie stammt aus der Masterarbeit: „Die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die traditionelle Beschäftigungsstruktur – am Beispiel von konkreten Unternehmen“ (2016, Michaela Ernst, Donau Universität Krems).